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Lektion 1 : Die Kolonialwarenläden

Was genau war eigentlich ein Kolonialwarenladen? Viele verbinden damit kleine Läden aus vergangenen Zeiten – mit Einweckgläsern im Regal, Kaffeeduft in der Luft und exotisierten Produktbezeichnungen. Doch hinter dieser Nostalgie steckt eine Geschichte, die weit über das Alltägliche hinausreicht.

 

Kolonialwaren waren vor allem Produkte, die über koloniale Handelswege nach Europa kamen: Kaffee, Tee, Kakao, Zucker, Gewürze, Reis – Genussmittel, die bald ganz selbstverständlich Teil des Alltags wurden. Die Läden, in denen sie verkauft wurden, waren Orte des Konsums, aber auch Schnittstellen zu einer Weltwirtschaft, die auf Ausbeutung beruhte.

 

Mit ihrer Bildsprache – Palmen, dunkle Haut, tropische Szenerien – inszenierte die Werbung diese Produkte als exotisch und begehrenswert. So wurden koloniale Vorstellungen in die Wohnküchen getragen, verpackt in bunt bedruckte Dosen.

 

In dieser Lektion geht es um die sichtbare und unsichtbare Geschichte der Kolonialwarenläden: Welche Waren führten sie? Wie veränderten sie den Alltag? Und was wurde durch sie mittransportiert – an Bildern, Bedeutungen, Ungleichheiten?

Zum Begriff Kolonialwaren

Der Begriff Kolonialware etablierte sich ab dem 18. Jahrhundert für Fernhandelsgüter, die seit der frühen Neuzeit als Luxusgüter bei der europäischen Aristokratie in Umlauf waren.[1] Sie sind sowohl Ausdruck als auch Ergebnis der frühen Globalisierungsprozesse. Die Waren umfassten zum einen Rohstoffe wie Baumwolle, Elfenbein oder Indigo     – die man in der boomenden Industrie Europas einsetzte –   sowie Genussmittel wie etwa Gewürze, Tee, Tabak, Zucker, Kaffee oder Kakao, die in diesem Beitrag im Fokus stehen. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff ausgedehnt auf Grundnahrungsmittel und Waren des täglichen Bedarfs und fungierte damit zunehmend synonym für „Lebensmittel“, unabhängig von deren tatsächlichem Herkunftsland.[2]

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Zum Begriff Kolonialwarenläden

Kolonialwarenläden waren im wesentlichen spezialisierte Geschäfte, die vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert in Europa verbreitet waren. Sie verkauften importierte Ware aus dem europäischen Kolonien, vor allem Genuss- und Lebensmittelprodukte wie Kaffee, Kakao, Zucker, Gewürze und Tabak*.[1]  Zunächst verkaufte man die Ware aus Übersee in spezialisierten Kaufhäusern, wie dem Kolonialhaus in Berlin-Schöneberg, welches mit kolonialer, exotisierter Architektur warb.[2] Abseits jener repräsentativen Orte dominierten allerdings kleine, oft familiär geführte Läden, in denen sich Kolonialwaren neben Haushaltsprodukten und lokaler Ware einreihten.[1] Der Begriff „Kolonialwaren“ blieb in Europa noch lange nach dem Ende der direkten Kolonialherrschaft  im Sprachgebrauch erhalten.[3]

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*Der Tabakhandel verlagerte sich mit zunehmenden Konsument:innen später in eigens entstehende Tabakwarengeschäfte. 

Literaturverzeichnis: 1 vgl. Wendt, R. (2012). Kolonialwaren, in Europäische Erinnerungsorte, Band 3: Europa und die Welt, hg. von Pim den Boer u. a. (München, 2012), 207–8 2 vgl. Schneide, M. (2023). Kolonialwarenläden im heutigen Marzahn-Hellersdorf. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/kolonialwarenlaeden-im-heutigen-marzahn-hellersdorf/ 3 vgl. Strunge, J. (2022). Musealisierte Kolonialwarenläden – Exponate einer glokalen Konsumgeschichte, Historische Anthropologie, 30, Nr. 1 (2022): 72–91.

Berlin, Deutschland - Fenster eines ehemaligen Kolonialwarenladens / Adobe Stock​

Entstehung und Entwicklung der Kolonialwarenläden

Anfänge des Importhandels 

Mit der Entdeckung Amerikas (1492) und dem aufblühenden Seehandel mit Asien gelangten Waren und Rohstoffe aus Übersee nach Europa. Die bedeutendsten Handelskompanien waren lange Zeit die Dutch East India Company (VOC) und die British East India Company, die um 1600 gegründet wurden und insbesondere den Gewürz-, Tee- und Textilhandel kontrollierten.[1] In hafen­nahen Handelszentren wie Hamburg oder Bremen begannen erste Händler in Deutschland, sich auf den Verkauf dieser exklusiven Produkte zu spezialisieren.[2] Allerdings waren Genussmittel wie Kakao, Kaffee und Zucker zu dieser Zeit aufgrund ihrer hohen Preise nur der wohlhabenden Oberschicht vorbehalten. Importierte Teesorten, als gesundheitsfördernd geltende Schokolade oder auf Palmöl basierende Hygieneprodukte wurden vor allem in Apotheken verkauft. Andere Waren wie Kaffee und Tabak hingegen fanden sich in spezialisierten Handelskontoren.[1]

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"Germans Eating Sour-Krout", James Gilrey, 1803, Wikimedia Commons 

Die Revolution des Genusses

Die hohen Preise und die Abhängigkeit von Importen führten zunächst zu Bestrebungen, die Produkte selbst anzubauen - mit unterschiedlichem Erfolg. Bereits im 16. Jahrhundert kultivierte man in der Pfalz, in Baden und Brandenburg Arten der Tabakpflanze aus Südamerika.[3] Statt Zuckerrohr, das im europäischen Klima nur schlecht gedieh, erzielten deutsche Bauern mit dem Anbau von Zuckerrüben als Ersatz große Erfolge.[4] Andere Pflanzen wie Kaffee oder Kakao hingegen erwiesen sich als ungeeignet für die hiesigen klimatischen Bedingungen. Die staatlich geförderte Suche nach Ersatzstoffen für importierte Luxuswaren wie Zucker und Kaffee führte zu tiefgreifenden Veränderungen in der Ernährung und Konsumkultur. Statt auf teure Importgüter angewiesen zu sein, etablierte sich eine Eigenproduktion, die entweder geschmacklich vergleichbare Alternativen bot oder lediglich die Illusion des Originals erzeugte.[5] Diese Anpassung prägte nicht nur den Warenmarkt, sondern auch das tägliche Leben der Menschen. Gewürze verfeinerten die bis dahin oft eintönige und fleischlastige Kost und Kartoffeln wurden  eine nahrhafte und zunehmend unverzichtbare Grundlage für breite Bevölkerungsschichten. Tee und Kaffee ersetzten traditionelle Frühstücksgewohnheiten wie die morgendliche Biersuppe und trugen zu einem Wandel im Konsumverhalten bei. [5]  

Getränke, die nicht berauschten, sondern belebten, passten außerdem zur neuen Arbeitsdisziplin einer sich modernisierenden Gesellschaft. Besonders im Kontext der Reformation, der Aufklärung und der Industrialisierung wurden diese Heißgetränke als ideale Muntermacher geschätzt – nicht nur als Alternative zum Alkohol, sondern auch als Symbole einer rationalen und produktiven Lebensweise. Kaffee, Tee und Kartoffeln begleiteten die Europäer auf ihrem Weg in eine zunehmend arbeitsorientierte und partizipatorische Industriegesellschaft.[5]

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Die Entstehung des Kleinhandels 

Als Reaktion auf die Industrialisierung und die damit wachsende Bevölkerung sowie der Entstehung neuer sozialer Schichten wie der Arbeiterschaft und des neuen Mittelstandes begannen sich Mitte des 19. Jahrhunderts der Kleinhandel zu entwickeln.[6] In den Läden wird die Gesellschaft mit Alltags- und Gebrauchsgütern versorgt. Die Geschäftsräume waren oft nur kleine Flächen, das Sortiment umfasste meist weniger als 100 Produkte. Um 1875 zählte man im Deutschen Reich etwa 185.000 Betriebe, die sich auf Einzelhandel mit Kolonialwaren und lokalen Produkten spezialisierten. Um die 20 Jahre später hatte sich die Zahl auf 300.000 erhöht, 1914 waren es schätzungsweise 540.000 Betriebe.[7]

Die Entstehung und der Ausbau von Eisenbahnnetzen, Dampfschiffen und Telegrafen machten den Handel mit fernen Gebieten im späten 19. Jahrhundert zudem effizienter und auch günstiger.[8]

Das "Berliner Kolonialhaus" war ein Unternehmen von Bruno Antelmann. Neben dem repräsentativen Haus auf der Lützowstraße in Berlin unterhielt das Unternehmen 400 weitere Verkaufsstellen in Deutschland. Ziel war es, neben Lebensmitteln, auch Ethnografica, Wohnaccessoires und Kolonialliteratur, vorrangig aus den deutschen Kolonien zu verkaufen.  [9]  Bildquelle: Deutsche Kolonialzeitung 1903, Wikimedia Commons

Der Konsum der Fremde 

Mit dem Aufschwung des Kleinhandels etablierten sich sogenannte Kolonialwarenläden als zentrale Einrichtungen der Nahversorgung – sowohl in Städten als auch in ländlichen Gebieten. Sie führten eine breite Palette an Waren: Neben den klassisch importierten Kolonialgütern wie Kaffee, Tee, Kakao, Zucker und Gewürzen fanden sich zunehmend auch regionale Erzeugnisse, etwa Bier, Wein, Mehl oder Seife. Der Marktanteil von deutschen Kolonialwaren hielt sich allerdings insgesamt gering. Bei Kakao aus den Kolonien lag dieser um 1904 bei 2,2 und auch der Erfolg von „Kolonialkaffee“ hielt sich in Grenzen. Die wichtigsten Handelspartner des Deutschen Kaiserreiches in Afrika waren Südafrika, Marokko und Ägypten – die unter britischen und französischen Einfluss standen.[8]

Im Grunde sprechen wir von Kolonialwaren, die in der Hochzeit des boomenden Einzelhandels in einer Vielzahl de facto gar keine Kolonialwaren waren. Im Jahr 1900 etwa war der Hauptlieferant für Kaffee Brasilien und Ecuador. [11] Beide Gebiete waren zu dieser Zeit bereits nicht mehr unter Kolonialherrschaft. 

Die Selbstbezeichnung als „Kolonialwarenhandlung“ verlieh den Geschäften nichtsdestotrotz ein besonderes Prestige, auch als viele Produkte längst nicht mehr aus aktiven Kolonien bezogen wurden.[6] Der Begriff spiegelte die kolonial aufgeladene Vorstellung von Weltläufigkeit, Überlegenheit und Wohlstand wider – eine Vorstellung, die durch Werbematerialien und Verpackungsdesigns mit exotisierenden, oft rassistischen Bildwelten verstärkt wurde.[11] 

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Literaturverzeichnis: 1 vgl. Spiekermann, Uwe (2015): Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland, 1850-1914, C.H.Beck, München 2 vgl. Brix, P. (2020). Die Rolle Bremer Kaufleute bei der kolonialen Expansion. Hafenblog der Universität Bremen. https://blogs.uni-bremen.de/hafenblog/2020/08/01/die-rolle-bremer-kaufleute-bei-der-kolonialen-expansion/ 3 vgl. Bockwoldt, Maike (2020): Koloniale Produkte: Tabak. https://blogs.uni-bremen.de/hafenblog/2020/07/22/koloniale-produkte-tabak/?utm_source=chatgpt.com 4 vgl. Wendt, R. (2021). Die Verzuckerung der Welt. Zeitschrift für Ideengeschichte, 15(1), 26–35. https://doi.org/10.17104/1863-8937-2021-1-26 5 vgl. Wendt, R. (2012) Kolonialwaren. Band 3 Europa und die Welt: Europa und die Welt, edited by Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis and Wolfgang Schmale, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2012, pp. 207-214. https://doi.org/10.1524/9783486714012.207 6 vgl. Spiekermann, Uwe (2015): Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland, 1850-1914, C.H.Beck, München 7 vgl. Spiekermann, Uwe (2005): Die Edeka; In: Lummel, Peter & Deak, Alexandra (2005): Einkaufen – eine Geschichte des täglichen Bedarfs; Selbstverlag, Berlin 8 vgl. Strunge, J. (2022): „Musealisierte Kolonialwarenläden: Exponate einer glokalen Konsumgeschichte“ https://doi.org/10.7788/hian.2022.30.1.72 9 vgl. Zeller, J. (2002): Das Deutsche Kolonialhaus in der Lützowstraße. In: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin – Eine Spurensuche. Berlin 2002, S. 84–93. 10 vgl. Ciarlo, D. (2020). Die Aura des Exotischen. Werbliche Darstellung von Kolonialwaren im Kaiserreich. In Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben von Christian Kleinschmidt und Jan Logemann, 235–61 11 vgl. Schneider, M. (2023): Kolonialwarenläden im heutigen Marzahn-Hellersdorf. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/kolonialwarenlaeden-im-heutigen-marzahn-hellersdorf/

Aufbau und Gestaltung eines Kolonialwarenladens

Kolonialwarenläden waren in ihrer räumlichen Gestaltung meist schlichte, aber strategisch strukturierte Verkaufsräume – oft Teil eines Wohnhauses, mit kleinem Verkaufsraum im Vorderhaus oder Erdgeschoss. Die Verkaufsfläche war überschaubar: meist ein langer Tresen mit dahinterliegenden Regalen, dazu offene Behältnisse für lose Waren, hölzerne Fächer für Kaffee, Tee oder Zucker und separate Vitrinen für höherpreisige Produkte. Die Waren wurden nicht in Selbstbedienung angeboten, sondern von der Verkäuferin oder dem Verkäufer abgewogen, verpackt und verkauft – eine Praxis, die ein enges Vertrauensverhältnis zur Kundschaft förderte. [1] 

 

Die Sortierung mischte meist praktische Ordnung mit ästhetischer Inszenierung. Vor allem im städtischen Raum legten Händler*innen besonderen Wert auf dekorative Elemente. [2] In der Schaufenster- und Ladengestaltung nutzte man exotisierende Requisiten wie Palmblätter, Säcke mit tropischen Herkunftsaufdrucken oder Porzellanfiguren im „orientalisierten“ Stil. Der Dekorationsratgeber von Gustav Teller (Die Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen, 1914) empfahl sogar das Aufstellen von Schaufensterfiguren in „Eingeborenenkleidung“, um Kaffee- oder Kakaosäcke herum – eine Theatralik, die das koloniale Narrativ der Beherrschung des Fremden visuell aufbereitete.[3]

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Wilsdruff, Zedtlerstraße 79, Inneres eines Kolonialwarenladens, Besitzer: Pauline Plattner von Nowak, Max (Herstellung) (Fotograf) - Deutsche Fotothek, Germany - In Copyright - Educational Use Permitted.

Viele Kolonialwarenläden betrieben zu dem auch eigene Kaffeeröstereien auf der Ladenfläche oder in angrenzenden Räumen, was ein wichtiger Bestandteil der lokalen Veredelungskette war. Dieser Arbeitsschritt im Globalen Norden veranschaulicht, wie die Wertschöpfung kolonialer Produkte häufig nicht am Ort der Produktion, sondern erst in den Konsumregionen stattfand.[4]

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Obwohl viele Kolonialwarenläden auch regionale Produkte und Haushaltswaren führten, blieb der koloniale Charakter bestimmend – nicht nur durch das Sortiment, sondern durch die Atmosphäre. Die Läden wurden zu Alltagsorten, an denen koloniale Weltbilder ganz selbstverständlich weitervermittelt wurden. Sie verkörperten damit nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle Infrastrukturen des deutschen Kolonialismus.

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Wilsdruff, Zedtlerstraße 79, Inneres eines Kolonialwarenladens, Besitzer: Pauline Plattner von Nowak, Max (Herstellung) (Fotograf) - Deutsche Fotothek, Germany - In Copyright - Educational Use Permitted.

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Inneneinrichtung eines Kolonialwarenladens, Museum der Stadt Nürnberg, © Sam Gamdschie / Wikipedia

Literaturverzeichnis: 1 vgl. Spiekermann, U. (2005). EDEKA: Vom Kolonialwarenhändler zur Supermarktkette. In: Handel und Konsum in Deutschland, S. 123–145. 2 vgl. Ira Spieker, Kolonialwaren, Kredit und Kautabak. Ländliche Kaufläden von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Peter Lummel/Alexandra Deak (Hg.), Einkaufen! Eine Geschichte des täglichen Bedarfs, Berlin 2005, 53–60, 54; Jon Stobart, Sugar and Spice. Grocers and Groceries in Provincial England 1650–1830, Oxford 2013, 265; Ulrike Klein, Zur Geschichte zweier Kaufläden aus dem Münsterland, in: Stefan Baumeister/Kurt Dröge (Hg.), Beiträge zur Volkskunde und Hausforschung (1987) H. 2, 27–70, 40. 3 Teller, G. (1914). Die Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen und verwandte Geschäftszweige (3., verb. Aufl.). Leipzig: Jüstel & Göttel. 4 Strunge, J. (2022). Musealisierte Kolonialwarenläden: Geschichtskultur und Globalisierung im Lokalen. In M. Düring, M. Oertzen & C. Trischler (Hrsg.), ZeitRäume: Museum – Geschichte – Gesellschaft (S. 135–150). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839456022-009

Exotismus als Verkaufsschlager: Visuelle Inszenierung 

Schaufenster als Bühnen kolonialer Fantasien

Die Schaufenster der Kolonialwarenläden dienten teilweise als theatralische Kulissen, um die Herkunft der Waren zu mystifizieren. Gustav Tellers Handbuch „Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen“ (1914) empfahl die Verwendung von "manierierten Ne***figuren“ und "tropischen Requisiten" wie Palmenattrappen oder Fake-Kautschukbäumen.[1] Diese Inszenierungen sollten Käufer in eine imaginäre Kolonialwelt entführen, in der deutsche Überlegenheit und "exotische Ursprünglichkeit" harmonisch koexistierten.

 

Ein typische Dekoration zeigte beispielsweise Mannequins in stereotypen "afrikanischen" Kostümen – oft mit übertrieben dicken Lippen und blankem Oberkörper.[1] Solche Darstellungen reduzier Menschen auf dekorative Objekte und verschleierten die tatsächliche Herkunft und die Realität von Zwangsarbeit. 

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Kolonialwarenladen, circa 1928, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nachlass Gustav Oelsner

Die Sarotti-Werbefigur: Rassismus als Markenzeichen

Die Schokoladenfirma Sarotti perfektionierte diese Strategie mit ihrem 1918 eingeführten Logo: drei schwarze Männer in orientalisierenden Gewändern, die ein Tablett mit Süßigkeiten präsentieren.[2] Die Figur des "dienenden M**ren“ – inspiriert vom Standort der Berliner Fabrik in der M**renstraße – verkörperte die koloniale Hierarchie: Während deutsche Konsumenten genossen, symbolisierten die stets lächelnden, unterwürfigen Figuren die ausgebeuteten Produzenten. Trotz Protesten von Antirassismusinitiativen behielt Sarotti das Logo bis 2004 bei, ein Beweis für die Langlebigkeit kolonialer Bildsprache.[3]

 

Die Abbildung der Werbung für Rasierseife zeigt recht deutlich, dass die kolonialen Herrschaftshierachien durchaus Teil der Produktpräsentation waren. Die Inszenierungen spielten regelrecht mit den kolonialen Machtbildern. Sie präsentiert die Koloniale Welt als verfügbar, dienstbar, „fremd“ –  und damit umso reizvoller. Der Historiker David Ciarlo geht sogar davon aus, dass gerade die inszenierte Ungleichheit – das Gefühl, am kolonialen Herrschaftsverhältnis symbolisch teilzuhaben – den Konsum zusätzlich attraktiv machte.[4]

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Das Edeka-Modell: Kolonialwaren als Gemeinschaftsprojekt

Im Jahr 1898 gründeten 21 Berliner Händler die Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler (E.d.K., gesprochen EDEKA), um durch gebündelte Einkäufe Preise zu drücken.[5] Dieses Genossenschaftsmodell demokratisierte den Zugang zu Kolonialwaren – während ein einzelner Laden nur begrenzte Mengen ordern konnte, sicherte Edeka durch Massenabnahmen stabile Lieferungen aus Übersee. Die offizielle Bezeichnung „Kolonialwarenhändler“ behielt EDEKA übrigens bis 1972 bei – ein erstaunlich spätes Zeugnis dafür, wie tief koloniale Begrifflichkeiten im Selbstverständnis des deutschen Einzelhandels verankert waren.[6] Über Werbematerialien, Schaufensterinszenierungen und Verpackungsästhetik half EDEKA dabei, ein Bild von Verfügbarkeit, „Exotik“ und Beherrschbarkeit zu vermitteln.[6] 

 

Die Produkte präsentierte man in den meisten Läden, mit Palmenmotiven oder kolonialen Szenen dekoriert – eine Inszenierung, die nicht zuletzt den kolonialen Machtanspruch ästhetisch untermauerte.[6] 

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EDEKA war keine Filialmarke mit einheitlichem Erscheinungsbild wie heute, sondern ein Netzwerk selbständiger Läden mit geteilter Einkaufsmacht und koordinierter Werbung. [6] Bild: Edeka Geschäft in Hindenburg, 2011 by Nemo5576 via Wikimedia Commons

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Ideologische Unterfütterung: Kolonialwaren als zivilisatorischer Auftrag

Wie bereits erwähnt wurden, um den Mangel an kolonialen Eigenproduktionen zu kaschieren, Importwaren aus anderen Regionen gezielt umetikettiert und als „deutsche“ Erzeugnisse inszeniert. Diese semantiche Aneignung sollte den Käufern suggerieren, ihr Konsum stärke die nationale Wirtschaft.[6] 

Medizinisch anmutende Diagramme in Werbeprospekten behaupteten zudem, der Genuss von "deutschem Kakao" fördere die "Leistungsfähigkeit der weißen Rasse“.[6] Solche Pseudostudien verknüpften Konsum mit rassenhygienischen Idealen: Kolonialwaren dienten nicht nur dem Gaumen, sondern der vermeintlichen Höherentwicklung des Volkes.

 

Insgesamt verstand es der europäische Imperialismus hervorragend, die koloniale Expansion auch auf dem heimischen Markt zu legitimieren und zu kräftig zu bewerben . Die Besetzung Afrikas wurde in Europa nicht nur als politisches oder wirtschaftliches Projekt verkauft, sondern als moralische Pflicht inszeniert: Es gelte, die „unzivilisierten“ Gesellschaften zu „entwickeln“, zu „zivilisieren“ und ihnen durch Arbeit auf den Plantagen angeblich Wohlstand und Fortschritt zu bringen. Der Kauf von Kolonialwaren wurde so zu einem vermeintlich wohltätigen Akt stilisiert – als Teil eines zivilisatorischen Auftrags, der sich mit christlicher Nächstenliebe und nationaler Größe zugleich schmückte.[8]

Bildquelle: Kolonien - fördern die Volksernährung von F. A. Brockhaus Leipzig - Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Germany - CC BY-NC-SA.

Nachwirkungen: Vom Kolonialwarenladen zum Supermarkt

Obwohl Deutschland 1919 seine Kolonien verlor, überdauerten die Kolonialwarenläden. Viele dieser Läden existierten bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts weiter – teils unter der ursprünglichen Bezeichnung, teils als Lebensmittelhandlungen, die das koloniale Sortiment beibehielten.[9] Erst mit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, später mit Kriegswirtschaft und schließlich durch die sozialistische Umstrukturierung in der DDR verloren die Begriffe „Kolonialware“ und „Kolonialwarenladen“ allmählich an Bedeutung – auch wenn viele der Produkte nach wie vor zentral für den Konsumalltag blieben.[9]

Die Aufarbeitung dieser Geschichte bleibt fragmentarisch: Während Sarotti den Mohren 2004 durch einen magischen Turban-Träger ersetzte, exportieren deutsche Konzerne weiterhin Kaffee aus ehemaligen Kolonialgebieten – nun unter dem Deckmantel "fairer Preise", die jedoch selten existenzsichernd sind. Die Kolonialwarenläden mögen verschwunden sein, doch ihre rassistischen Narrative hallen im deutschen Konsumalltag nach.

 

Aus dekolonialer Perspektive stellt sich die Frage, warum Kolonialwarenläden – obwohl sie Träger und Vermittler kolonialer Ideologie, Warenketten und Alltagsbilder waren – in der öffentlichen Geschichtsschreibung so wenig Beachtung finden. Bis heute gilt der Kolonialwarenladen in vielen Darstellungen als nostalgischer Ort – verbunden mit Kindheitserinnerungen, Tante-Emma-Romantik und dem Duft von gemahlenem Kaffee. Seine Rolle als Scharnier zwischen globaler Ausbeutung und lokalem Konsum wird dabei kaum thematisiert. Auch Schulbücher und museale Aufarbeitungen erwähnen diese Läden, wenn überhaupt, als Teil wirtschaftlicher Modernisierung – nicht aber als Räume kolonialer Kontinuität.[10]

 

Dabei zeigen uns diese Läden deutlich, dass der Kolonialismus kein Projekt der Ferne war, sondern dass seine Ergebnisse tief in den Alltag der Konsument*innen einsickerten: in die Regale, die Verpackungen, die Sprache und die Werbung. 

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Kolonialwarenladen in Großpösna, Leipzig Quelle:Fotografie - Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Germany - CC BY-NC-SA.

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Ein wichtiges Mittel für die Rechtfertigung kolonialer Bestrebungen war die wirtschaftliche Bedeutung zu betonen. Später als man nach Abgabe der Kolonien Bilanz zog, kam man allerdings zu dem Schluss, dass die Kolonien die deutsche Wirtschaft mehr gekostet haben, als sie einbrachten. Bildquelle: Arbeit und Brot durch Kolonien Deutsche Kolonialgesellschaft Plakat Nr. 4 von Schindler - Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Germany - CC BY-NC-SA.

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Dresden-Altstadt, Waisenhausstraße 28, Ecke Viktoriastraße (Gebäude 1945 zerstört), Wohn- und Geschäftshaus mit "Colonialwaren und Delikatessengeschäft Alfred Flade im Erdgeschoss und Leihbibliothek u. Antiquariat Gustav Pietzsch, vormals Schmidt im Obergeschoss von Unbekannter Fotograf (Herstellung) (Fotograf) - Deutsche Fotothek, Germany - In Copyright - Educational Use Permitted.

​Literaturverzeichnis: 1 vgl. Teller G. (1914). Die Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen und verwandte Geschäftszweige (3., verb. Aufl.). Leipzig: Jüstel & Göttel. 2 vgl. Sarotti. (n.d.). Historie. Abgerufen am 18. März 2025, von https://www.sarotti.de/historie/  3 vgl. Hoffmann, B. (2020). Rassismus oder Nostalgie? Streit um den Sarotti-Mohr. Das Gleichstellungswissen – Newsletter. Abgerufen am 18. Mai 2025, von https://www.dashoefer.de/dasgleichstellungswissen/newsletter/artikel/rassismus-oder-nostalgie-streit-um-den-sarotti-mohr-.html 4 Ciarlo, D.(2020). „Die Aura des Exotischen. Werbliche Darstellung von Kolonialwaren im Kaiserreich“. In Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben von Christian Kleinschmidt und Jan Logemann, 235–61, 2020. 5 vgl. Wolf, T. (2024). Wer hat Edeka gegründet? Profit.de. Abgerufen am 20. März 2025, von https://profit.de/wer-hat-edeka-gegruendet/ 6 vgl. Spiekermann, U. (2005). EDEKA: Vom Kolonialwarenhändler zur Supermarktkette. In: Handel und Konsum in Deutschland, S. 123–145. 7 vgl. Wolter, S.  (2004). Die Vermarktung des Fremden: Exotismus und die Anfänge des Massenkonsum. Campus Verlag, Frankfurt am Main 8 vgl Ciarlo, D. (2011). Advertising Empire: Race and Visual Culture in Imperial Germany. Harvard University Press. 9 Schneide,M. (2023): Kolonialwarenläden im heutigen Marzahn-Hellersdorf. In: Kolonialismus begegnen. Dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte. URL: https://kolonialismus-begegnen.de/geschichten/kolonialwarenlaeden-im-heutigen-marzahn-hellersdorf/ (16.11.2023) 10 vgl. Strunge, J. (2022): „Musealisierte Kolonialwarenläden: Exponate einer glokalen Konsumgeschichte“ https://doi.org/10.7788/hian.2022.30.1.72 ​ Bildquelle Rasierseife: Ludwig Hohlwein, Firma F. Wolff & Sohn, Kaloderma-Rasierseife, 1924. Berlin, Deutsches Historisches Museum, CC 2.0

​​In der nächsten Lektion werden wir uns dem Sortiment der Läden widmen. Jenen Genussmittel, die auch heute noch alltäglich und standardisiert in unserem Verbrauch sind. Was ist ihre Geschichte? Wie kamen sie nach Europa? Wie wurden sie zur Massenware? Und welche kolonialen Kontinuitäten pflegen sie? 

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